- Eine kritische Betrachtung der 3-Punkte-Regel bei großen Fußballturnieren -
Vorbemerkung:
Anfang der Neunziger Jahre setzte sich im Weltfußballverband FIFA die Ansicht durch, dass ein Sieg nicht mehr wie zuvor mit zwei, sondern mit drei Punkten zu belohnen sei, wobei das Unentschieden weiterhin einen Punkt wert sein sollte. Ab dem Jahr 1994 wurde die sogenannte "3-Punkte-Regel" bei Welt- und Kontinentalmeisterschaften eingeführt, ab 1995 auch für die Ligen der Landesverbände vorgeschrieben. Die Regel hat zwar wohl tatsächlich wie erhofft zu weniger Unentschieden und daher mittelbar zu etwas offensiverem Spiel geführt - für die Endrunden der großen Fußballturniere ist sie jedoch so gut wie belanglos, wie im Folgenden gezeigt wird.
Formale Betrachtungen:
Voraussetzung: Eine Vorrundengruppe bestehe aus je vier Mannschaften, die je einmal gegenseitig aufeinander treffen. Die zwei Bestplatzierten erreichen die nächste Runde. Es gelte die 3-Punkte-Regel.
Bemerkung: Dieser Modus wurde in der überwiegenden Zahl der WM- und EM-Turniere angewendet (bis 1992 allerdings wie erwähnt ohne die 3-Punkte-Regel).
Definition: Der Endstand einer solchen Gruppe werde wie folgt charakterisiert: X1-X2-X3-X4, wobei Xi die Punktzahl der Mannschaft auf Rang i nach Abschluss der Gruppenphase angibt.
Bemerkung: Die Reihenfolge punktgleicher Mannschaften sei o. B. d. A. durch die jeweils geltenden Turnierregularien eindeutig festgelegt.
Satz 1: Die Chancen, mindestens den zweiten Platz zu belegen, sind mit 5 erzielten Punkten genauso hoch wie mit 6. Insbesondere gibt es keine Konstellation, in der eine Mannschaft mit 6 Punkten die nächste Runde erreicht, eine Mannschaft mit 5 Punkten aus derselben Gruppe jedoch nicht.
Beweis: Es gibt genau eine Gruppenkonstellation, in der eine Mannschaft mit 6 Punkten nicht einen der beiden ersten Plätze belegt: 6-6-6-0. Ebenso gibt es genau eine Konstellation, in der 5 Punkte nicht zum Erreichen der nächsten Runde genügen: 5-5-5-0.
Satz 2: Die Chancen, mindestens den zweiten Platz zu belegen, sind mit 2 erzielten Punkten genauso hoch wie mit 3. Insbesondere gibt es keine Konstellation, in der eine Mannschaft mit 3 Punkten die nächste Runde erreicht, eine Mannschaft mit 2 Punkten aus derselben Gruppe jedoch nicht.
Beweis: Es gibt genau eine Gruppenkonstellation, in der eine Mannschaft mit 3 Punkten nicht einen der letzten beiden Plätze belegt: 9-3-3-3. Ebenso gibt es genau eine Konstellation, in der 2 Punkte noch zu Platz 2 reichen können: 9-2-2-2.
Satz 3: Die 3-Punkte-Regel kann im Vergleich zur 2-Punkte-Regel nur eine Mannschaft mit 4 Punkten gegenüber einer mit 3 Punkten (erzielt durch drei Unentschieden) bevorzugen.
Beweis: Hinreichend sind folgende Konstellationen: 7-4-3-1, 5-4-3-2 und 4-4-4-3. Das "nur" folgt aus den Sätzen 1 und 2.
Historische Betrachtungen:
Hierzu wurden die Vierergruppen der bis 2010 durchgeführten WM- und EM-Turniere, der Copa America (CA), des Afrika-Cups (AC, ab 2000) sowie des Confederations Cups (CC) der Herren (insgesamt n=56 Turniere mit Vierergruppen, abzurufen unter www.fussballdaten.de) ausgewertet und falls nötig auf die 3-Punkte-Regel umgerechnet.
- Zu Satz 1: Insgesamt ergab sich die Konstellation 6-6-6-0 viermal (WM 1982 Gruppe 2, WM 1994 Gruppen D und F, CC 2001 Gruppe A), 5-5-5-0 hingegen nur zweimal (WM 1974 Gruppe II, EM 2004 Gruppe C).
- Zu Satz 2: Die Reihenfolge 9-3-3-3 trat viermal auf (CA 1921, WM 1950 Gruppe 2, AC 2006 Gruppe D, CC 2009 Gruppe B), 9-2-2-2 nie.
- Zu Satz 3: Einzige Belege für eine derartige Konstellation: 7-4-3-1 (WM 1958 Gruppe 3) und 4-4-4-3 (AC 2010 Gruppe D).
Interpretation:
Insgesamt scheint der Einfluss der 3-Punkte-Regel auf das Erreichen der nächsten Runde bei den derzeit geltenden WM- und EM-Regularien bestenfalls marginal. In nur zwei Gruppen bei 56 Turnieren ergab sich eine Konstellation, in der die 3-Punkte-Regel direkt über das Weiterkommen entschieden hätte. Paradoxerweise deuten die Daten sogar an, dass es mit 6 erzielten Punkten wahrscheinlicher ist, noch auszuscheiden, als mit 5.
Ausblick:
Zukünftige Forschungen auf diesem Gebiet könnten die historischen Betrachtungen verfeinern, indem sie auch bedingte Wahrscheinlichkeiten in die Berechnungen einbeziehen (Stichwort: Satz von Bayes). Zudem könnte das Datenmaterial um den Afrika-Cup vor 2000, den Asien-Cup, den CONCACAF-Goldcup und die Länderturniere der Damen und Junioren erweitert werden.